- Naturalismus: Sekundenstil und Sozialdrama
- Naturalismus: Sekundenstil und SozialdramaAnders als die Schriftsteller früherer literarischer Bewegungen des 19. Jahrhunderts waren jene Autoren, die sich seit 1885 zum Naturalismus bekannten, in Gruppen organisiert, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Gemeinsam war ihnen der Anspruch, die sozialen und politischen Zustände nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 ohne idealisierende Verklärungen und subjektive Filterungen darzustellen. Nicht die deutschen Realisten, sondern die französische, russische und skandinavische Literatur des 19. Jahrhunderts, vor allem die Romane Zolas sowie die Dramen Ibsens und Strindbergs, waren neben Georg Büchner und den Autoren des Vormärz die Vorbilder. Zwar hat sich die naturalistische Bewegung Ende der Achtzigerjahre schnell durchsetzen können, wurde aber wenige Jahre später von den literarischen Strömungen der Jahrhundertwende, dem Impressionismus, der Neuromantik, dem Jugendstil und dem Symbolismus, wieder verdrängt.Die Naturalisten haben in eigenen Zeitschriften ihre Programme formuliert und in eigenen Vereinen literarische Aktivitäten organisiert. Vorkämpfer waren die Brüder Heinrich und Julius Hart, die in Berlin mit den »Kritischen Waffengängen« (1882-84) das erste Organ der naturalistischen Bewegung schufen. Beide waren zugleich Mitglieder des Vereins »Durch«, der 1886 in Berlin gegründet worden war und in regelmäßigen Sitzungen die Vertreter der neuen Literaturauffassung zusammenführte. In gemeinsam verfassten Protokollen hielten sie den Willen zur Durchsetzung einer »modernen« Literatur fest. Die Mitglieder des Vereins waren meist Beiträger der Lyrik-Anthologie »Moderne Dichter-Charaktere«, die 1885 in Berlin von Wilhelm Arent mit dem programmatischen Anspruch auf Erneuerung der Literatur herausgegeben wurde. Doch erfüllten die Texte diesen Anspruch allenfalls durch eine sozialkritische und politische Ausrichtung, nicht aber in formaler Hinsicht, sodass der viel benutzte Begriff der »Moderne« ohne literarische Substanz blieb.Neben Berlin war München mit der Zeitschrift »Die Gesellschaft« (1885-1902) das zweite Zentrum des Naturalismus. »Unsere »Gesellschaft««, so schreibt der Gründer des Organs, Michael Georg Conrad, mit Bezug auf die Verlautbarungen der Berliner Naturalisten, dem die Zeitschrift ebenfalls als Forum diente, »wird keine Anstrengungen scheuen, der herrschenden, jammervollen Verflachung und Verwässerung des literarischen, künstlerischen und sozialen Geistes starke, mannhafte Leistungen entgegenzusetzen, die romantische Flunkerei und entnervende Fantasterei durch das positive Gegenteil wirksam zu bekämpfen. Wir künden Fehde dem Verlegenheits-Idealismus des Philistertums, der Moralitäts-Notlüge der alten Parteien- und Cliquenwirtschaft auf allen Gebieten des modernen Lebens«.Unter dem Einfluss der Romane Émile Zolas versuchten die deutschen Naturalisten zunächst, ihre Vorstellungen in der Prosa umzusetzten. Wegweisend waren hier vor allem zwei Texte: Gerhart Hauptmanns Erzählung »Bahnwärter Thiel«, die 1888 in der Münchner »Gesellschaft« erschien, und der 1889 veröffentlichte dialogische Prosatext »Papa Hamlet« von Arno Holz und Johannes Schlaf, in dem die theoretischen Forderungen durch die präzise Wiedergabe sprachlicher und außersprachlicher Details erstmals konsequent in die Praxis umgesetzt wurden. Als »Sekundenstil« ist dieses Verfahren schon von den Zeitgenossen treffend bezeichnet worden. Mit seiner theoretischen Studie »Revolution der Lyrik« (1899) und der - immer wieder erweiterten - Gedichtsammlung »Phantasus« (1898-1926) hat Arno Holz darüber hinaus entscheidende Impulse zur Entwicklung einer modernen Lyrik geliefert, wie die Rezeption seiner Texte und Theorien im Berliner »Sturm«-Kreis seit 1910 zeigt, der die europäische Avantgarde in Deutschland publik machte.Bekannt geworden ist der Naturalismus bei den Zeitgenossen aber durch Dramen, für deren Aufführung neue Vereine wie die »Freie Bühne« (1889) und die »Freie Volksbühne« (1890) gegründet wurden. Die Sprache der Stücke war die Umgangssprache oder der Dialekt; zum Teil wurde gestammelt und gestottert, um eine perfekte Wirklichkeitsillusion zu schaffen. Hauptmanns erstes, 1889 aufgeführtes Drama »Vor Sonnenaufgang« ist nicht zufällig Bjarne P. Holmsen gewidmet, einem Pseudonym, unter dem Holz und Schlaf ihren »Papa Hamlet« veröffentlicht hatten. Doch orientiert sich Hauptmanns Stück nicht nur formal, sondern auch inhaltlich an seinem Vorbild, da hier die Lebensformen der Unterschicht erstmals auf die Bühne gebracht wurden, nachdem einige Romanautoren bereits ihre Vorliebe für die Welt der Verbrecher, Huren und Außenseiter entdeckt hatten. Übermäßiger Alkoholkonsum, zerrüttete Familienverhältnisse, Geisteskrankheit, Armut und Prostitution waren seither bevorzugte Themen der naturalistischen Literatur. »Im Suff!« heißt nicht zufällig ein 1890 veröffentlichtes Drama von Konrad Alberti, das die dominante Rolle des Alkohols im Drama des Naturalismus zum Gegenstand der Parodie machte.Der Grund für diese Hinwendung zu den Niederungen des menschlichen Lebens war aber nicht nur die Lust an der Provokation oder das Bemühen, das mit der Industrialisierung entstandene soziale Elend auf der Bühne darzustellen. Dahinter stand zugleich der Anspruch, die Theorien des Empirismus und des Sozialdarwinismus literarisch umzusetzen. Die Auffassung, dass der Mensch durch Herkunft und Lebensumstände schicksalhaft geprägt sei, war eine der Grundlagen des naturalistischen Theaters und Ausdruck seines Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit. Objektivität, Kausalität und Gesetzmäßigkeit wurden deshalb zu zentralen Kategorien der Literatur.Schon Zola hatte in einer Studie zum »Experimentalroman« (1880) von der Literatur die Orientierung an den Naturwissenschaften gefordert. Wilhelm Bölsche lieferte mit seinem Buch »Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie« (1887) dafür in Deutschland die Argumente. In seiner Arbeit »Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze« (1891-92) prägte Arno Holz schließlich die vielzitierte Formel: »Kunst = Natur - x«. Künstlerische Darstellung und Wirklichkeit sollten danach bis auf einen subjektiven Rest identisch sein. Kategorien wie Fantasie und Fiktion wurden abgelehnt, Exaktheit und Überprüfbarkeit wurden zu neuen Kriterien der Kunst.Doch fanden die Stücke der Naturalisten keineswegs einhellige Zustimmung. Schon Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«, mit dem das naturalistische Drama in Deutschland bekannt wurde, rief bei seiner ersten Aufführung in der »Freien Bühne« 1889 neben Zustimmung auch heftige Proteste hervor. Und Hauptmanns erfolgreichstes Stück »Die Weber« (1892), das den schlesischen Weberaufstand von 1844 behandelt, führte dazu, dass Wilhelm II. nach der Aufführung des Dramas am Deutschen Theater 1894 die königliche Loge kündigte und die staatlichen Subventionen strich. Hauptmann selbst allerdings hatte sich nicht nur durch seine skeptische Haltung gegenüber den wissenschaftlichen und politischen Ansprüchen seiner Mitstreiter, sondern auch mit Stücken wie dem Lustspiel »Der Biberpelz« und dem neuromantischen Drama »Hanneles Himmelfahrt« (1893) bereits früh vom ursprünglichen Programm des Naturalismus entfernt. Dennoch blieb er, vor allem nachdem er 1912 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, bis zu seinem Tod im Jahr 1946 der bekannteste Repräsentant der naturalistischen Bewegung im In- und Ausland.Dr. Detlev SchöttkerNaturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement, herausgegeben von Helmut Scheuer. Stuttgart u. a. 1974.
Universal-Lexikon. 2012.